Game Changer Portrait #2:
Rudolf Wötzel
„Sense of Purpose“

Rudolf Wötzels Weg zum Game Changer – einem Menschen also, der aus vorgegebenen Strukturen ausbricht und mutig Neues schafft – hat vermutlich nicht so begonnen, wie man sich das für diesen Typus Mensch gemeinhin vorstellt: Er begann mit der wachsenden Einsicht, dass Rudolf Wötzel sich nicht frei fühlte. In seinem „früheren Leben“ – wie er es gerne nennt – hatte er Unternehmen zu Milliardenschweren Fusionen beraten und Firmenübernahmen und Verkäufe betreut.

Wötzel hatte zuletzt das Mergers & Acquisitions Geschäft bei Lehman Brothers und der Deutschen Bank betreut. Er war maßgeblich an den erfolgreichen Verhandlungen zwischen Lufthansa und Swiss Air beteiligt. Karrieremäßig ging es für ihn also 20 Jahre lang steil bergauf, und dennoch fühlte sich Wötzel zunehmend schlechter. Das ist mit Sicherheit nicht das, was man von einer höchst erfolgreichen Karriere, von einem unabhängigen, selbstbestimmten Leben erwarten würde.

Also machte sich Wötzel auf die Suche nach dem, was er vermisste. In ihm reifte Stück für Stück die Idee, die Alpen zu Fuß zu überqueren und auf diese Weise neue Perspektiven zu finden. Zunächst begann diese Idee relativ klein: Wötzel schloss sich jeden Tag für eine halbe Stunde in sein Büro ein und war für niemanden zu sprechen. In dieser kostbaren Zeit versuchte er, seine noch vage Idee zu visualisieren und ihr Leben einzuhauchen. Er brütete über Wanderkarten, recherchierte Berghütten, an denen er vorbeikommen würde, und so nahm die Idee, sich eine Auszeit zu nehmen und zu Fuß über die Alpen zu wandern, nach und nach Gestalt an.

129 Gipfel – erlebte Hochs und Tiefs und eine radikale Entscheidung

Am 22. Mai 2007 war es dann soweit: Wötzel brach in Salzburg auf und überwand  auf seinem Weg nach Nizza im Laufe eines halben Jahres mehr als 129 Gipfel. Während dieser insgesamt 120 Etappen sammelte Wötzel zudem 22.000 Franken für ein Projekt zur Integration geistig behinderter Kinder. Aber es passierte auch noch etwas anderes: Während dieser Auszeit oder auch Sinnsuche gewann Wötzel eine elementare Erkenntnis  – er würde  nicht mehr zurückkehren, weder an seinen alten Arbeitsplatz, noch in sein altes Leben.  Als er diesen Gedanken verinnerlicht hatte und sich von seinem alten Leben verabschiedet hatte, passierte etwas Großartiges mit ihm. Er war plötzlich völlig frei im Kopf und offen für neue Dinge.

Wötzel wollte diese einmal erlebte Freiheit und dieses Gefühl, das er während seiner Wanderungen in den Bergen gespürt hatte – das Gefühl, ganz bei sich sein zu können – nicht mehr aufgeben. Das Schicksal half mit einer Schippe Glück. In einem Tal bei Klosters in den österreichischen Alpen stand eine Berghütte, das Gemsli, zum Verkauf. 2009 erwarb Wötzel diese Hütte und machte sie zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Er bewirtschaftete sie zunächst einfach nur, kochte und kümmerte mich um seine Gäste. Doch einfach „nur“ ein Gästehaus zu führen, war ihm als Aufgabe in seinem neuen, selbstbestimmten Leben dann doch bald zu wenig. Darum beschloss er, seine positive Erfahrung weiterzugeben und schuf mit dem Gemsli ein Berg(zu)Haus, das Menschen die gleiche Chance zur Selbstfindung bieten sollte, wie er sie selbst in den Bergen erfahren hatte.

Heute schafft Wötzel dort als Gastgeber für seine Gäste einen Raum, indem sie die gleiche Freiheit finden können, wie er sie damals fand und unterstützt sie dabei, ihren Sinn und Weg, ihre verlorene Mitte, wieder zu finden.

 

Werdegang einer Vision

Um ein erfolgreicher Game Changer zu sein, ist es essenziell, einen tiefergehenden Sinn hinter dem, was man tut, zu sehen. Wötzel griff dabei auf seine reichhaltigen Erfahrungen mit Veränderung und Disruption aus seinem „ersten Leben“ zurück. Demnach braucht es immer drei Dinge, um einen tiefgreifenden Wechsel herbeiführen zu können: Unzufriedenheit mit dem Status Quo, eine Mission oder auch Vision, eine sinnstiftende Richtung für die geplante Veränderung also, und eine Initialzündung.

Wötzel suchte also nach einem Weg, seine Vision Realität werden zu lassen. Er begann dieses Unterfangen in kleinen Schritten und griff dabei auf das zurück, was bereits tief in ihm verwurzelt war: Seine Liebe zur Natur, die ihn seit Kindertagen begleitet. Dort fand er schon immer die größte Ruhe und war ganz bei sich selbst. An dieser positiven Erfahrung hat Wötzel auch in seinem früheren Leben als erfolgreicher Geschäftsmann festgehalten. Wann immer es ging, nahm er kurze Auszeiten  in einem nah gelegenen Park, auf einem Stück Wiese oder einem ähnlichem Ort. Oft reichten ihm dabei  ein Baum und eine Bank oder etwas Grün, um in seinen 100-Stunden Wochen kurz zu verschnaufen und etwas zu sich zu kommen. Irgendwann allerdings reichten diese kleinen „Einheiten“ nicht mehr aus, und als die Ermüdung immer größer wurde, wurde auch der Wunsch, Abstand zu gewinnen, langsam übermächtig. So begann seine Wanderung in ein neues Leben.

Persönliches Fazit eines erfolgreichen Game Changers

Unabhängig davon, welche Vision, welches Ziel man hat – die Frage der Perspektive ist der entscheidende Aspekt dabei. Wötzel kann diesen Punkt gar nicht genug betonen. Gefühlt jeden Tag liest oder hört man davon, dass jetzt dieses oder jenes verändert werden muss. Und selten genug passiert dann etwas. Denn jede Veränderung, ob bei Personen oder in Organisationen,  passiert idealerweise von innen heraus. Wenn ein Wechsel nicht gewollt ist, führt er selten zu etwas Gutem. Ein wirklicher Aufbruch oder gar ein Umbruch funktioniert nicht, indem von den gleichen Verantwortlichen in den immer gleichen Mustern gedacht wird, während eigentlich neue Chancen ergriffen werden müssten, um am Markt zu bestehen. Mit anderen Worten: Nur eine Änderung des Mindsets ermöglicht Change – das war für Wötzel die fundamentalste Erkenntnis während seiner Reise.

Vor seiner Reise wäre er nie in der Lage gewesen, zu erkennen, dass Hüttenwirt für ihn eine wirkliche Option für seine berufliche Weiterentwicklung sein könnte. Wötzel war so von äußeren Faktoren beeinflusst, dass es für ihn keine Alternative zum erwartbaren nächsten Schritt auf der Karriereleiter gab. Aber als er seine Lebensumstände und – besonders drastisch – sein unmittelbares Umfeld veränderte, vollzog sich etwas Erstaunliches: Stück für Stück veränderte sich während dieser Wanderung auch seine Wahrnehmung. Denn es fällt schwer, inmitten dieser endlosen Weite und dieser riesigen Berge sich selbst so wichtig zu nehmen und den eigenen, vergleichsweise kleinen Ängsten dieselbe Bedeutung beizumessen, wie es beispielsweise in der Stadt oder einem geschäftigen Büro möglich ist. Dort kann man diese Dinge durch Ablenkung leicht auch Abstand halten – in der Weite der Berge treffen sie einen unvermittelt. Wötzel machte sich also Stück für Stück von seinen alten Sichtweisen frei und kam seiner Vision zunehmend näher. Irgendwann im Laufe dieser Reise gelangte er dann an den Punkt, an dem er völlig frei Entscheidungen treffen konnte – unbeeinflusst von den Sichtweisen anderer. Nun war er in der Lage, die vorgetretenen Karrierepfade zu verlassen.

Für Wötzel ist diese gedankliche Freiheit die unabdingbare Voraussetzung, dass wirklich erfolgreiche Menschen ein Thema nachhaltig und in bedeutender Weise zu verändern.

Und noch eine ganz wichtige, grundlegende Eigenschaft gibt es in Wötzels Augen, die alle Game Changer vereint: die Fähigkeit, neugierig zu sein. Er selbst bezeichnet sich seit je her als einen wirklich extrem neugierigen Menschen und fand diesen Wesenszug zeitlebens auch an den inspirerenden Persönlichkeiten, denen er begegnete. Die unablässige Frage nach dem Warum angesichts scheinbar unveränderlicher Regeln und Gesetzmäßigkeiten ist, seiner Meinung nach, ein essentieller Bestandteil der Game Changer-DNA.

Neben dieser eher intellektuellen Fähigkeit zur Neugier braucht es auf der anderen Seite auch emotionale Fähigkeiten. Denn ohne den Wunsch sich mitzuteilen, etwas ausdrücken zu wollen, kann man kein Game Changer sein. Und dafür braucht es neben Lebenserfahrung auch eine gewisse Empfindungsfähigkeit. Denn es ist genau diese Mischung aus intellektueller Neugier und emotionaler Empfindungsfähigkeit, die einen Menschen die den Wunsch erwecken, etwas zu gestalten und zu formen. Und letztlich dazu befähigen, eine Veränderung zu schaffen, die von Bedeutung und Dauer ist.

Es braucht also Träumer, um wirklich etwas zu verändern, ebenso braucht es aber auch Strategen und Denker und Tüftler. Dabei müssen es nach Wölzels Erfahrung nicht immer schillernde Persönlichkeiten vom Schlage eines Elon Musk sein, die zum Game Changer werden. Innovative Teams und Unternehmen, die sowohl wirtschaftliche als auch innovative Talente erfolgreich verbinden, können mit einer Vision, die groß genug ist, ebenso zum Game Changer werden.

Keine Macht der Angst

Und noch ein Wort zu dem einen Aspekt, der die Menschen davon abhalten kann, erfolgreiche Game Changer zu werden: Angst.

Wer Regeln bricht oder auch nur in Frage stellt, muss mit Gegenwind rechnen – und es kann überaus angsteinflößend sein, allein aufgrund einer Version zu handeln, die vielleicht nicht sofort als Teil eines großen Ganzen erkennbar ist und damit im Rampenlicht zu stehen. All das sind Umstände, die einem nachhaltig verunsichern und infolgedessen vom Handeln abhalten können. Wötzel aber kennt keinen ängstlichen Game Changer.

Denn Angst ist immer Ausdruck eines übermächtigen Sicherheitsbedürfnisses und erzeugt den Wunsch, den bestehenden Status Quo zu bewahren. Unter diesen Bedingungen ist natürlich keinerlei Veränderung möglich, denn Angst macht konservativ und Game Changer müssen agil sein. Jedoch war auch Wötzel nicht frei von Bedenken, als er sich aufmachte, seinen Job zu kündigen und quasi sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Er hatte Schwierigkeiten, loszulassen und machte sich die größten Sorgen, dass seine Mitmenschen ihn als Versager sehen würden, dass er unter der Brücke landen würde. Doch Wötzel sah von Anfang auch die Chance – war die Auseinandersetzung mit diesen Ängsten doch zugleich eine wichtige Übung, um überhaupt zum Game Changer zu werden. Als er während seiner Wanderung Berggipfel um Berggipfel überwand und dabei immer mehr zu sich selbst und seiner Vision zurück fand, wurden diese Sorgen vielleicht nicht kleiner – dafür braucht es Gelassenheit und Erfahrung – aber in ihm wuchs das Gefühl ebenbürtig zu sein und den Menschen, von deren Erwartungen er sich zuvor abhängig gemacht hatte – auf Augenhöhe begegnen zu können.

Ein Game Changer zu sein hat letztlich also viel mit Emanzipation zu tun – selbstverantwortlich und mutig der eigenen Vision zu folgen. Genau wie es Wötzel auf seiner Reise von Top-Berater zum Hüttenwirt und Lebens-Coach getan hat.